Peter Wahl: Kriege in Nahost und der Ukraine

Peter Wahl: Kriege in Nahost und der Ukraine

Die Dilemmata des Westens

Es läuft schlecht für den Westen. »Die Lage der Ukraine ist dramatisch. Es fehlt an Munition, Nachschub und Soldaten«, heißt es selbst bei der treuesten Gefolgschaft Kiews (Bild am Sonntag, 11.2.2024, S. 4). Und die FAZ befürchtete schon im letzten Sommer, dass »Kiew den Krieg verlieren könnte« (22.8.2023, S. 1). Stellvertreterkriege funktionieren nun mal nur so lange, wie der Stellvertreter zur Kriegsführung in der Lage ist. Die Sponsoren Kiews stehen deshalb vor der Wahl, durch die Lieferungen von noch gefährlicheren Waffen als bisher zu eskalieren oder sich allmählich zu einen Kompromissfrieden zu bequemen.

Wie die Debatte um Taurus und Macrons Bodentruppenmanöver zeigen, ist man sich nicht einig und fährt daher vorerst business as ­usual. Unterdessen läuft für die Ukraine die Zeit davon.

Es läuft schlecht für den Westen – auch im Gaza-Krieg. In einem halben Jahr hat die israelische Kriegführung zu mehr als doppelt so viel Ziviltoten wie zwei Jahre Ukraine-Krieg (UN-Angaben)[1] geführt und Gaza auf lange Zeit unbewohnbar gemacht. Im Globalen Süden wird die im Vergleich zur Russland-Politik des Westens großherzige Nachsicht für die israelische Kriegsführung als moralischer Bankrott des Wertewestens gesehen. Die Hoffnungen, im Süden doch noch Länder für die Koalition der Willigen gegen Russland zu gewinnen, sind damit endgültig geplatzt. Alle Versuche selbst Washingtons, der Kriegsführung Israels wenigsten ein paar humanitäre Zügel anzulegen, sind bisher gescheitert. Benjamin Netanjahu macht, was er will, nämlich weiterhin Fakten schaffen, mit denen die Zweistaatenlösung für immer blockiert wird und sich das Ziel von Groß-Israel from the river to sea erreichen lässt.

Der Westen steht in beiden Kriegen vor Dilemmata. Ein Dilemma ist ein nicht so einfach und vor allem nicht kurzfristig zu lösender Widerspruch.

Ukraine-Krieg an einem kritischen Punkt

So bleiben die russischen Truppen, nachdem sie mit Awdijiwka die am stärksten ausgebaute Festung der Ukraine erobert haben, in der Offensive und rücken an mehreren Frontabschnitten vor. Zwar geht es dabei immer nur um wenige Kilometer, aber auch im Krieg gibt es so etwas wie Kipppunkte – strategische Wendepunkte, wie es Stalingrad im Zweiten Weltkrieg war, als die Deutschen lange vor Kriegsende die strategische Initiative verloren. Ob Awdijiwka so ein Wendepunkt war, wird erst die Zukunft zeigen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es über kurz oder lang zu einem militärischen Durchbruch Russlands mit entsprechenden Kettenreaktionen kommt.

Denn kurzfristig wird sich am Mangel an Munition und Gerät nichts ändern.

Peter Wahl hat Gesellschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Romanistik in Mainz, Aix-en-Provence und Frankfurt a.M. studiert. Er war in Nord-Süd- und entwicklungspolitischen Zusammenhängen tätig, u.a. in der NGO »Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung – WEED«. Im Jahr 2000 gehörte er maßgeblich zu den Gründern des globalisierungskritischen Netzwerks Attac in Deutschland. Ende 2023 erschien von ihm die Flugschrift »Der Krieg und die Linke«, gemeinsam mit Thomas Sablowski gibt er den im April erscheinenden Band »Europäische Integration in der multiplen Krise« heraus (beide im VSA: Verlag).

OHRCR, 22.2.2024. www.ohchr.org/en/press-releases/2024/02/ukraine-turk-deplores-horrific-human-cost-russias-full-scale-invasion-enters.

Artikel vom 28. März 2024 aus:

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