„Ohne Anmeldung“ stand in der Einladung für die Medico-Veranstaltung im Spora Haus in Berlin Neukölln. Das Thema: Grenzen der Staatsraison? – Geschichte, deutsche Erinnerungspolitik und der Krieg gegen Gaza. Mit Daniel Marwecki (Politologe), Charlotte Wiedemann (Publizistin) und Riad Othman (Nahostreferent bei medico international)
Das hatten die Veranstalter anscheinend nicht erwartet: Es kamen doppelt so viel Menschen als das auf 85 Personen angelegte Auditorium erfassen konnte. Abhilfe geschaffen wurde mit schnell aufgestellten Stühlen im großzügigen Foyer.
Daniel Marwecki sprach einleitend …
… über die Entwicklung der bundesdeutsch – israelischen Beziehung, über das sogenannte „Wunder der Versöhnung“. Es sei natürlich kein „Wunder“ gewesen, denn die Politik der „Wiedergutmachung“ entsprach den politischen Interessen auf beiden Seiten – der deutschen Regierung für das Ansehen der BRD in der Welt und der israelischen Seite für eine Hilfe beim Aufbau des Landes (Industrie, Waffen, Finanzhilfen).
Charlotte Wiedemann referierte über die Entwicklung der Erinnerungskultur in der BRD. Wann wurde welcher Opfergruppen gedacht, wie kam es zu der Einengung auf den Holocaust und die schließlich daraus folgende Verpflichtung auf ein Bekenntnis zur israelischen Staatsverfasstheit und Politik?
Anschließend leitete Riad Othman das Gespräch über auf die Ansichten der beiden Podiumsteilnehmer zur gegenwärtigen deutschen Politik vor dem aktuellen Hintergrund der Zerstörung Gazas und der zunehmenden Repression gegenüber Andersdenkenden und Protestierenden. An der Diskussion beteiligte sich im Anschluss auch das Publikum rege. Einig war man sich darüber, dass der Verweis auf die „Staatsraison“ immer mehr zu Disziplinierung und Ausgrenzung genutzt werde, verbunden mit Demonstrationsverboten, Repressalien Diskursverschiebung und Anpassung der Sprache an politische Vorgaben. Die staatliche Politik in Bezug auf Israel – worauf schon der Einsatz des Begriffes „Staasraison“ aus Kaisers Zeiten hindeutet – werde zu einem vordemokratischen Instrument, ihre autoritären Vorgaben und Formulierungen würden anschlussfähig an die zunehmende Antiintegrationspolitik. So sollen – neben ständigen Antisemitismusvorwürfen gegen Kritiker der israelischen Politik – Muslime und Einwanderer Bekenntnissen gegen Antisemitismus ablegen. Als „erschreckend“ wurde auch die Berichterstattung der Medien eingeordnet – nicht nur die der Springerpresse, sondern auch z. B. von ARD und ZDF, die hauptsächlich unkritisch den vorgegebenen Sprachregelungen folgten. In der Beurteilung der Verbrechen in der Ukraine und in Gaza wurde eine deutliche Diskrepanz wahrgenommen.
Gemeinsames Fazit: Die Solidarität mit den Palästinensern muss sichtbarer werden!
Daniel Marwecki: „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“
Wallstein Verlag, Göttingen 2023
Charlotte Wiedemann: „Den Schmerz der Anderen begreifen, Holocaust und Weltgedächtnis“, Propyläen Verlag 2022
KLARtext-Blog: „Israel: Wie war und wie ist das mit der „deutschen Verantwortung“?„