11.11.2024 – Sanktionen & einseitige Zwangsmaßnahmen – Vortrag mit Dr. Heiner Fechner in Frankfurt

11.11.2024 – Sanktionen & einseitige Zwangsmaßnahmen – Vortrag mit Dr. Heiner Fechner in Frankfurt

Über den Referenten: Heiner Fechner, Dr. jur., ist Co-Vorsitzender der IALANA und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen. / Veranstaltungsort: 60313 Frankfurt am Main, Kleine Hochstraße 5 / www.club-voltaire.de

Das Dossier gibt es hier als pdf-Dokument: https://perspectac.de/wp-content/uploads/2024/10/Wissenschaft-und-Frieden_2024-2_Dossier-98.pdf

Veröffentlichung und Überblick: Sanktionen & einseitige Zwangsmaßnahmen – Wissenschaft & Frieden (wissenschaft-und-frieden.de)

Herausgeber des Dossier: AG Sanktionen der IALANA – Vereinigung für »Friedensrecht« (Gerhard Baisch, Wiebke Diehl, Heiner Fechner, Kornelia Kania, Helmut Lohrer, Volkert Ohm) in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF), mit finanzieller Unterstützung durch: Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK

Die BAG GuK ist Mitveranstalter – Die Veranstaltung wird von uns videodokumentiert.

Ein Artikel im Dossier von Dr. Heiner Fechner»Wirtschaftssanktionen« gegen Venezuela – Eine menschenrechtliche Kritik von Heiner Fechner

Venezuela ist seit 2015 einem schrittweise von den USA aufgebauten Regime von »Wirtschaftssanktionen«, d.h. einseitigen Zwangsmaßnahmen (im Folgenden: EZM), ausgesetzt. Ergänzt wird dieses durch eine de-facto-Enteignung von in den USA und verbündeten Staaten tätigen Unternehmen an venezolanischem Staatseigentum. Getroffen wird damit vor allem die Öl- und Erdgasindustrie, die seit rund hundert Jahren die fast ausschließliche Devisen- und Haupteinnahmequelle des Staates ist.

Seit Einführung der EZM ist nicht nur das Bruttoinlandsprodukt zusammengebrochen. Vielmehr haben sich auch die Einfuhr an Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs sowie wirtschaftliche Investitionen extrem reduziert. Das hat zu einer massiven Verschlechterung des Lebensstandards beigetragen. Innerhalb weniger Jahre sind Armut und Elend für die Bevölkerungsmehrheit zum Standard geworden, unabhängig vom Beschäftigungsstatus. Dieser Artikel soll Entwicklung und Wirkung der EZM in Bezug auf Venezuela nachzeichnen und sie vor allem menschenrechtlich einordnen.

Die »Bolivarianische Revolution« seit 1999
Wer sich nach den Leitmedien richtet, bekommt den Eindruck, Venezuela sei bis zur Präsidentschaft von Hugo Chávez (1999-2013) ein funktionierender demokratischer Rechtsstaat mit stabiler Wirtschaft gewesen. Dieser sei durch ein populistisches Regierungssystem sukzessive abgebaut und in wirtschaftliche Not gebracht worden – insbesondere durch Chávez’ Nachfolger seit 2013, Nicolás Maduro. Daher gelte es für westliche demokratische Regierungen, die »demokratische« Opposition mit dem Ziel eines Regierungswechsels zu unterstützen.

Tatsächlich hat ein voll ausgereifter demokratischer und sozialer Rechtsstaat in Venezuela nie existiert. Das Ende der letzten Diktatur (1958) änderte wenig an der faktischen Rechtslosigkeit (Informalität) der Bevölkerungsmehrheit, Verfolgung politisch Andersdenkender und weitverbreiteter Korruption. Unter Chávez wurden Sozialstaat und demokratische Teilhabe auf kommunaler Ebene (bspw. durch Nachbarschaftsräte u.a.) stark ausgebaut, während andere Bereiche kaum Fortschritte machten (bspw. die Demokratisierung der Wirtschaft). Die durch alte Eliten und privilegierte Mittelschichten geprägte Opposition reagierte auf den Sozialstaatsausbau mit ökonomischer Sabotage, Putschversuchen und gewaltgeprägtem Widerstand, unterstützt u.a. durch die US-Regierung (ausf. Fechner 2016).

Nach Chávez’ Tod im Jahr 2013 spitzte sich die Situation zu; die Opposition setzte unmittelbar nach dem Wahlsieg von Chávez’ Nachfolger Maduro auf einen Re­gime-Change, d.h. auf einen außerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung gewaltsam erzwungenen, das politische, soziale und ökonomische System grundlegend ändernden Regierungswechsel. Nach den von der Opposition gewonnenen Parlamentswahlen im Jahr 2015 spitzte sich der Konflikt zwischen einem mehrheitlich oppositionellen Parlament und dem Präsidentenamt inmitten eines Verfalls der Ölpreise und der damit einhergehenden Wirtschaftskrise zu. Die US-amerikanischen EZM sind in diesem Kontext zu betrachten.

Das »Sanktionsregime« der USA gegen Venezuela: Zielsetzungen und Wirkung
Die Spirale der US-amerikanischen EZM begann mit dem »Venezuela Defense of Human Rights and Civil Society Act of 2014« (Gesetz 113-278 – im Folgenden »Venezuela-Act«). Das Gesetz, das „gezielte Sanktionen gegen Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen an gegen die Regierung Protestierenden, zur Stärkung der Zivilgesellschaft und anderer Zwecke“ vorsieht, nennt ökonomische Probleme, gestiegene Kriminalitätsraten, Machtkonzentration in der Exekutive bei Verschlechterung der Menschenrechtslage, rechtsstaatliche Defizite und nicht gerechtfertigte Niederschlagung von Protesten als Hintergrund. Ziele seien u.a. ein menschenrechtlich und rechtsstaatlich basiertes respektvolles Verhältnis mit Venezuela, die ökonomische Unterstützung der Bevölkerung und der repräsentativen Demokratie, sowie die Überwindung von Missständen.

Der Venezuela-Act ermächtigte den US-Präsidenten, von im »International Emergency Economic Powers Act« aufgeführten »Sanktionsmechanismen« Gebrauch zu machen. Präsident Obama erklärte darauf aufbauend am 8. März 2015 per »Executive Order« (im Folgenden: EO) 13692 das innenpolitische Handeln der venezolanischen Regierung zur „ungewöhnlichen und außerordentlichen Gefahr für die nationale Sicherheit und Außenpolitik“ der USA und belegte sieben Personen, darunter Angehörige der Streitkräfte und der Polizei, eine Staatsanwältin, sowie den Präsidenten eines staatlichen Schwer­industriekonzerns, mit entsprechenden EZM. Die Betroffenen wurden dabei mit dem staatlichen Umgang mit regierungskritischen, gewalttätig verlaufenden Protesten in Verbindung gebracht, die unter Regierungsgegnerinnen und -anhängerinnen gleichermaßen mehrere Dutzend Menschenleben gefordert hatten.

Allerdings erlangten die EZM erst unter Präsident Trump ihr volles Gewicht. Dieser erließ von 2017 bis 2019 fünf weitreichende EO mit »targeted sanctions« (»zielgerichteten Sanktionen«). Ein euphemistischer Begriff, da hier mit relativ eng umschriebenen Maßnahmen der Einsturz des venezolanischen Zugangs zu ausländischen Geldern und damit ein Zusammenbruch der Ökonomie betrieben wurde, ohne ein allgemeines Handelsembargo zu verabschieden. EO 13808 verbot dem staatlichen venezolanischen Erdölkonzern PDVSA sowie anderen staatlichen Unternehmen den Zugang zu Krediten sowie eine Staatsfinanzierung über Banken mit Sitz oder Zweigstelle in den USA. Ergänzt um Verbote des Handels mit Venezuela in oder zum Nutzen von Digitalwährungen (EO 13827; vor allem gegen den Petro gerichtet, eine venezolanische Digitalwährung zur Ermöglichung internationaler Transaktionen unter Umgehung des US-Dollar), die Umschuldung von Krediten (EO 13835), Einschränkungen der venezolanischen Goldindustrie (EO 13850) sowie das Einfrieren staatlicher Vermögen in den USA (EO 13884) versuchte die US-Regierung, Venezuela in die Zahlungsunfähigkeit zu führen. EO 13857 von 2019 schließlich beschränkte nach Washingtons Anerkennung des Parlamentspräsidenten Guaidó als »Übergangspräsident« die EZM auf die Regierung unter Präsident Maduro.

EO 13808 begründete ähnlich den Folgeverordnungen das Verbot des Zugangs zu Krediten mit den „jüngsten Handlungen und Politiken der Regierung Venezuelas, einschließlich schwerer Verstöße gegen die Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Verantwortung für die sich verschärfende humanitäre Krise in Venezuela, der Einsetzung einer unrechtmäßigen verfassunggebenden Versammlung, die die Macht der demokratisch gewählten Nationalversammlung und anderer Regierungsorgane Venezuelas an sich gerissen hat, der ausufernden Korruption im öffentlichen Sektor sowie der anhaltenden Unterdrückung und Verfolgung der politischen Opposition und der Gewalt gegen sie“.

Ein Zusammenhang zwischen den verhängten Zwangsmaßnahmen und den dargestellten Entwicklungen in Venezuela ist mit Ausnahme der ersten EO aus 2015, in der einzelne Personen einschließlich der von ihnen vertretenen Körperschaften »sanktioniert«, d.h. ohne Gerichtsverfahren de facto bestraft werden, nicht erkennbar. Es fehlt an einer Eignung der Maßnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtslage, der Wirtschaft oder Demokratie. Einen Überprüfungsmechanismus sehen die EO nicht vor – es fehlt bereits an überprüfbaren Zielen.

Die EZM betreffen formal nur »US-Personen« oder Handlungen in den USA. Da sie auch für Unternehmen gelten, die Zweigstellen in den USA betreiben, wirken sie jedoch extraterritorial. Wegen der typischen Präsenz international tätiger Finanzunternehmen in den USA und der Gefahr der Verhängung von Bußgeldern in Milliardenhöhe, resultieren die von der US-Regierung erlassenen Regelungen in einer faktischen globalen Blockade des Zugangs zu Krediten und Devisen (Weisbrot und Sachs 2019). Fälle wie beispielsweise die 2014 gegen die Pariser Bank BNP Paribas verhängte Geldstrafe von knapp 9 Mrd. US$ wegen der Umgehung von Sanktionen gegen Kuba, Iran und Sudan haben seitdem zu übergroßer Vorsicht geführt.

Schon der Venezuela-Act hatte eine erhebliche Herabstufung der Kreditwürdigkeit Venezuelas auf den internationalen Finanzmärkten zur Folge. So wertete beispielsweise Fitch Venezuela im Dezember 2014 um zwei Punkte von »B« auf »CCC« ab, Moody’s im Januar 2015 ebenfalls um zwei Punkte von »Caa1« auf »Caa3«, d.h. jeweils auf eine Stufe kurz vor dem Zahlungsausfall. Wegen des starken Rückgangs der Staatsausgaben für Importe, die aufgrund gesunkener Öleinnahmen und Kreditzugänge radikal reduziert wurden, landete Venezuela schnell in einer Abwärtsspirale. Befördert durch die Verweigerung des Parlaments, neue Kredite zu genehmigen, schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2014 und 2016 um geschätzt 24,3 % (Weisbrot und Sachs 2019, S. 7).

Noch deutlich intensiver wirkten allerdings die unter Präsident Trump zwischen 2017 und 2019 verhängten EZM im Zusammenspiel mit dem seit den Wahlen 2015 oppositionellen Parlament, das konsequent die erforderliche Zustimmung zu neuen Krediten einschließlich der Umschuldung verweigerte. Bei zeitgleich sinkenden Ölpreisen bedeutete dies eine schwere Doppelbelastung der Wirtschaft. Die Ölproduktion sank dreimal so schnell wie seit Beginn der Ölpreiskrise Mitte 2014 und koppelte sich vor allem von der Entwicklung in vergleichbaren Staaten ab. So exportierte Venezuela 2015 täglich 1,97 Mio. Fass Öl pro Tag und 2018 1,27 Mio., um 2022 schließlich bei 0,44 Mio. den Tiefststand zu erreichen (OPEC 2024). Die seit langem hohe Inflationsrate stieg von 2014 (62,1 %) bis 2017 (438,1 %) kontinuierlich, um 2018 mit über 65.000 % in der Hyperinflation zu landen.

Auswirkungen auf Menschenrechte in Venezuela
Ein Bericht der UN-Sonderberichterstatterin zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf den Genuss der Menschenrechte, Alena Douhan, über die Lage in Venezuela aus dem Jahr 2021 (Douhan 2021) führt die menschenrechtlichen Auswirkungen der EZM vor Augen. In den Blick nimmt sie dabei die Sanktionen gegen die Öl- und Goldindustrie sowie den Bergbau, die ökonomische Blockade, das Einfrieren von Geldern der Zentralbank, gezielte Sanktionen gegen Einzelpersonen sowie die Übererfüllung durch Banken und Unternehmen aus Drittstaaten.

Douhan weist in ihrem Bericht auf die erheblichen Auswirkungen von EZM auf das gesamte sozialstaatliche Institutionengefüge und damit die Menschenrechtslage vor allem im Bereich wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte hin. Das beginnt mit der Versorgungsinfrastruktur. So lief die Elektrizitätsversorgung 2021 aufgrund fehlender Ersatzteile, Emigration von Fachleuten usw. und infolge des erzwungenen Einkaufsstopps bei lediglich 40 % ihrer Kapazität. Diesel fehlt, weil die Raffinerien notwendige Zusätze nicht importieren können. Die Produktion und der Transport von Nahrungsmitteln sind dadurch beeinträchtigt, wie auch der Betrieb von Schulbussen, ÖPNV sowie Krankenwagen. Besonders betroffen sind dabei abgelegen lebende indigene Gemeinden, deren Versorgung aufgrund fehlender Ressourcen vielfach drastisch reduziert oder ganz eingestellt wurde.

Sowohl die allgemeine physische (Verkehr usw.) als auch die soziale Infrastruktur (Krankenhäuser, Schulen usw.) und Sozialprogramme erlitten schwerste Schäden. Betroffen sind dabei insbesondere besonders verletzliche Personen wie Mütter, Kinder und alte Menschen, Schwerbehinderte und chronisch Kranke sowie Indigene. Da es der venezolanische Staat ist, der durch öffentliche Unternehmen weitgehend die Versorgung mit Gas, Strom, Wasser, Transport, Telekommunikation, Schulen und Krankenhäusern sicherstellt, macht sich das plötzliche Fehlen des Zugangs zu Technologie und Produkten aus Ländern des Globalen Nordens unmittelbar bemerkbar. Es wirkt sich direkt auf den Genuss der sozialen Menschenrechte auf Leben, Nahrung, Wasser, Gesundheit, Wohnen und Bildung, sowie – wegen des erschwerten bis verunmöglichten Zugangs zu Benzin und der erheblichen Einschränkung des ÖPNV – auf die Bewegungsfreiheit, sowie den Zugang zum Recht aus.

Recht auf Nahrung und Wasser
Das Recht auf Nahrung und auf den Schutz vor Hunger (Art. 11 Sozialpakt) wird durch die Sanktionen erheblich beeinträchtigt. Nach realistischen Schätzungen wurden vor Beginn der EZM rund 75 % der verbrauchten Nahrungsmittel importiert, wobei der Staat über den Erdölverkauf wiederum für über 90 % der Deviseneinnahmen und damit letztlich die Bezahlung der Importe verantwortlich zeichnete. Infolge der EZM beobachteten die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO u.a. (2023) Unterernährung und chronischen Hunger in der Periode 2019-2021 bei 22,9 % der Menschen in Venezuela – ein Anstieg um 18,4 Prozentpunkte von ursprünglich 4,5 % in der Periode 2013-2015. Aufgrund der Hyperinflation und der fehlenden Handlungsmacht des Staates, im Bereich der Nahrungsmittelversorgung der Preisentwicklung entgegenzusteuern, deckte der Mindestlohn 2021 nach nationalen Erhebungen lediglich 2 % des Warenkorbs. Die Wasserversorgung der Haushalte, die zu 52 % über aus den USA stammende Technologien gewährleistet wird, zu 29 % über deutsche und schweizerische Apparate, funktionierte 2021 nur noch zu 50 %.

Mit der Nahrungsmittelunsicherheit verbunden sind indirekte Folgen wie der Anstieg familiärer Krisen und Spannungen samt Gewalt und Trennungen und zunehmender Kinderarbeit (Beeinträchtigungen der Menschenrechte auf Schutz und Beistand der Familie sowie von Kindern und Jugendlichen), aber auch wachsendes Gewicht der informellen Wirtschaft, Prostitution und sanktionsbedingter Migration. Auch gab es Meldungen über Fälle von Kinderprostitution im Austausch gegen Nahrungsmittel.

Recht auf Gesundheit
Im Hinblick auf das Recht auf Gesundheit (Art. 12 Sozialpakt) fehlt es seit Einführung der Wirtschaftssanktionen nicht nur an grundlegenden Medikamenten und Impfstoffen. Schwierigkeiten der Elek­trizitäts- und Wasserversorgung bringen Hygieneprobleme in Privathaushalten wie in Gesundheitszentren mit sich. Infrastruktur und medizinische Apparate werden aufgrund fehlender Wartung in Mitleidenschaft gezogen und können nicht ersetzt werden, sodass teilweise selbst einfache Bluttests nicht durchgeführt werden können. Ein Beispiel hierfür ist das staatliche Unternehmen Quimbiotec, das 2011 noch rund 600.000 Blutpräparate herstellte, während es 2015 lediglich 300.000 und 2020 nur 1.610 waren. Zulieferer aus dem Ausland sahen sich 2020 laut Aussage des Direktors von Quimbiotec sanktionsbedingt nicht mehr in der Lage, die Lieferkette nach Venezuela zu bedienen (Douhan 2021).

Versuche, eingefrorene Geldmittel zum Kauf von Medikamenten freizugeben, wurden selbst während der Covid-19-Pandemie vom Westen abgewiesen; ein mit dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP vereinbarter Tausch eingefrorener Goldreserven gegen Covid-19-bezogene Medizinprodukte wurde von Großbritannien verhindert. Rund zwei Drittel der HIV/AIDS-Patient*innen mussten ihre zuvor kostenlose Behandlung abbrechen, sodass die Mortalitätsrate sich allein bis 2018 mehr als verdoppelt hatte (Douhan 2021).

Recht auf Bildung
Seit 2016 ist die staatliche Finanzierung für Bildungseinrichtungen erheblich rückläufig. Schulspeisung wird teils gar nicht mehr, teils nur noch in geringerer Menge und mit reduzierter Vielseitigkeit angeboten. Die Austeilung von Schuluniformen und weiterem schulischem Grundbedarf wurde stark gedrosselt oder gestoppt. Während der Pandemie verunmöglichten die Sanktionen Kindern und Jugendlichen aus ärmeren Haushalten aufgrund der häufigen Elektrizitätsausfälle, fehlender Infrastruktur für das Internet (fehlende Antennen und Modems) sowie technischer Hilfsmittel im Heimunterricht den Zugang zu Bildung vielfach.

Migration und Menschenrechte
Während nach Schätzungen des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) 2015 rund 700.000 Venezolanerinnen im Ausland lebten, stieg diese Zahl bis Mai 2021 je nach Schätzung auf bis zu 5,6 Millionen. Die Hyperinflation, geringe Löhne und verschlechterte Arbeitsbedingungen provozierten erhebliche Migration. So ist die Zahl der Ärztinnen zwischen 2014 und 2019 von 66.138 auf 35.939 zurückgegangen. Während das Gerichtswesen mit maximal 22.390 Vollzeitbeschäftigten 2017 noch 467 offene Stellen aufwies, waren es 2020 schon 8.138. Bei der Polizei verblieben von 130.000 ausgebildeten Beamten noch 94.000. Je nach Bereich hat der Öffentliche Dienst sanktionsbedingt 30-50 % seiner Beschäftigten verloren, mit besonders hohen Verlusten bei hoch ausgebildeten Arbeitskräften wie medizinischem Fachpersonal, Ingenieurinnen, Lehrerinnen und Professorinnen, Richterinnen und Polizeibeamt*innen.

Die massenhafte Migration führte aber nicht nur in Venezuela selbst zu Menschenrechtsbeeinträchtigungen, sondern aufgrund der Vielzahl und der ökonomischen Schwäche der überwiegenden Anzahl der Betroffenen zu erheblicher Verletzlichkeit in den Transit- und Zielländern. Für die Geflüchteten bedeutet dies eine faktische Verschlechterung der Menschenrechtslage in fast jeder Hinsicht.

Auswirkungen auf das politische System
Die Sanktionen zielten laut Gesetzesbegründungen darauf ab, Verschlechterungen der Menschenrechtslage und einem Demokratieabbau bei Anstieg autoritärer Herrschaft entgegenzuwirken. In der Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass die Zwangsmaßnahmen gegen Venezuela in keiner Hinsicht auch nur ansatzweise in die formal angestrebte Richtung gewirkt haben. Ganz im Gegenteil wird vielfach eine Zunahme autoritärer Strukturen beobachtet (vgl. Rosales und Jiménez 2021).

Konkrete Beispiele hierfür sind die Ausschaltung des mehrheitlich oppositionellen Parlaments durch den Obersten Gerichtshof, die Einberufung einer – tatsächlich keine neue Verfassung ausarbeitenden – Verfassungsgebenden Versammlung als Parlamentsersatz oder die gerichtliche Einsetzung von Parteivorständen in oppositionellen Parteien durch die Gerichtsbarkeit. Mögen für jeden einzelnen dieser Fälle aus der Perspektive der Agierenden auch plausible rechtliche Gründe gesprochen haben – dies ist nicht der Ort, das zu klären – so zeigen sie insgesamt doch erhebliche Defizite der demokratischen Verfassungspraxis auf. Defizite, die sich seit Aufnahme des Wegs der EZM zugespitzt haben.

Nicht allein die Arbeitsbedingungen der regierungsfeindlichen Opposition haben sich seit Beginn der Sanktionen erheblich verschlechtert. Auch die demokratischen Spielräume in eher regierungsnahen oder neutralen Feldern haben sich verkleinert. So hat sich die Position der Militärs in der Regierung, aber gerade auch in staatlichen Unternehmen, erheblich verstärkt und – aus der Abwehrlogik heraus – wurden vertikale anstelle dynamisch-horizontaler Strukturen befördert. Das traf insbesondere die größte demokratische Errungenschaft des Chavismo, die kommunale Selbstverwaltungsstruktur (»Consejos Comunales y Comunas«) als direktes Organ der bislang aus dem öffentlichen und ökonomischen Leben exkludierten Bevölkerung. Durch das staatliche Lebensmittelverteilungsprogramm CLAP wurde diese in eine vertikale, staatlich-militärisch gesteuerte Machtstruktur eingebunden, die ihrer horizontalen demokratischen Eigenlogik diametral entgegenwirkt.

Fazit
Die EZM der USA, der EU und westlicher Staaten haben Venezuela in eine schwere ökonomische, soziale und politische Krise gestürzt. Die Maßnahmen haben nicht nur eine für Venezuela unvergleichbare Emigrationswelle hervorgerufen, sondern auch die Menschenrechtslage massiv verschlechtert, insbesondere in Bezug auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Soweit die Ziele der EZM überhaupt in einem Zusammenhang mit dem offiziell angestrebten Zweck standen, haben sie das Gegenteil erreicht.

Recht unverhohlen geht es vor allem den USA um einen Regime-Change und damit um eine völkerrechtlich unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten, wobei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit formal im Mittelpunkt der Begründung der EZM stehen. Das politische System hat seit Beginn der EZM jedoch nicht den Weg zu mehr Demokratie und Herrschaft des Rechts eingeschlagen; im Gegenteil: während erhebliche Teile der Opposition wiederholt für gewaltsamen Widerstand optiert und voll auf die Unterstützung von außen im Kampf gegen die Regierung gesetzt haben, hat sich auch der Regierungsbetrieb zunehmend militarisiert. Die politische Ordnung ist im Vergleich zum Zeitpunkt vor Beginn der EZM deutlich dirigistischer (autoritärer) geworden. Im Alltag wiederum steht der Überlebenskampf über den rechtlichen, das gesellschaftliche Leben organisierenden Institutionen wie Arbeits-, Umwelt- oder Verwaltungsrecht usw.

Hier stellt sich schnell die Frage, welche Funktion solche zielgerichteten, aber letztlich global wirkenden EZM überhaupt haben, wenn sie weder die Menschenrechtslage noch Rechtsstaatlichkeit oder demokratische Mitwirkungsrechte verbessern. Objektiv ist ausschließlich die Schwächung Venezuelas als regionaler Macht und die Beseitigung Venezuelas (und des von Präsident Chávez ausgerufenen »Sozialismus im 21. Jahrhundert«) als politischem Orientierungspunkt für die Region erfolgt – wohl eine Intention des Sanktionsregimes. Die praktische Wirkung dessen liegt jedoch in einer massiven Verschlechterung der Menschenrechtslage, bzw. eines mittelbaren Eingriffs vor allem in die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Bevölkerungsmehrheit.

Literatur
Douhan, A. (2021): Visit to the Bolivarian Republic of Venezuela. Report of the Special Rapporteur on the negative impact of unilateral coercive measures on the enjoyment of human rights, Alena Douhan. A/HRC/48/59/Add.2. Genf, 6.9.2021.

FAO; IFAD; PAHO; UNICEF; WFP (2023): Regional Overview of Food Security and Nutrition – Latin America and the Caribbean 2022: towards improving affordability of healthy diets. Santiago, Januar 2023.

Fechner, H. (2016): Emanzipatorischer Rechtsstaat. Praxistheoretische Untersuchung soziokultureller Inklusion durch Recht am Beispiel Venezuelas. Baden-Baden: Nomos.

Krennerich, M. (2016): Soziale Menschenrechte: Zwischen Recht und Politik. Schwabach: Wochenschau Verlag.

OPEC (2024): OPEC Members’ crude oil exports, https://asb.opec.org/ASB_Charts.html?chapter=1538 (abger. 20.4.2024).

Rosales, A.; Jiménez, M. (2021): Venezuela: Autocratic consolidation and splintered economic liberalization. Revista de Ciencia Política 41(2), S. 425-447.

Weisbrot, M.; Sachs, J. (2019): Economic Sanctions as Collective Punishment: The Case of Venezuela. Center for Economic and Policy Research, Washington, D.C, April 2019.


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Die AutorInnen des Dossiers:

  • Gerhard Baisch ist Rechtsanwalt und Mitglied im Vorstand von IALANA Deutschland. Er lebt in Bremen.
  • Wiebke Diehl ist Islam- und Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin und lebt in Berlin.
  • Heiner Fechner, Dr. jur., ist Co-Vorsitzender der IALANA und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen.
  • Desiree LIaguno Cerezo, Dr. jur., ist Professorin an der Universität von Havanna. Ihr Promotionsstudium in Seerecht und internationalem Recht führte sie an die Universität Cadiz, Spanien (2022).
  • Helmut Lohrer, Dr. med., ist »Internaltional Councilor« der deutschen Sektion der Internationalen Ärztinnen für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW). Er lebt und arbeitet als Hausarzt in Villingen-Schwenningen.
  • Tarek Mahmalat ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg.
  • Volkert Ohm ist Rechtsanwalt und Mitglied im Vorstand von IALANA Deutschland. Er lebt in Bremen.
  • Elizabeth Valdés-Miranda Fernández, Dr. jur., Professorin für Völkerrecht an der Universität von Havanna. Nach einem Master in Völkerrecht an der Universität Havanna führte sie ihre Promotion in Seerecht und Völkerrecht ebenso an die Universität Cadiz, Spanien


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