Buchempfehlung von Reinhard Frankl (GEW)
Der russische Angriff auf die Ukraine und die unmittelbar darauf folgende Ausrufung einer „Zeitenwende“ durch den sozialdemokratischen Bundeskanzler machten klar, dass sich die Friedensbewegung auf Jahrzehnte hinaus noch schwerer tun würde als schon in den vergangenen. Es folgte ein quasi gesamtgesellschaftlicher Burgfrieden bis weit in die sich selbst als radikal bezeichnende Linke hinein, wie er zuletzt von 1914 berichtet wird. In den Gewerkschaften wurde dieser Burgfrieden zum ersten Mal gebrochen mit dem Streik der Hanauer IG Metall- und ver.di-Kolleginnen und -Kollegen im November 2022 unter dem Motto „Löhne rauf! Waffen runter!“. Er sucht noch heute seinesgleichen. Damit war die Wahl des Ortes für die gewerkschaftliche Friedenskonferenz am 23./24. Juni 2023 in Hanau getroffen. Ihre Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Mit ihr wurde ein neuer Meilenstein in Gewerkschafts- und Friedensbewegung gesetzt. Ulrike Eifler (BAG Betrieb & Gewerkschaft) war maßgeblich an der Organisation beteiligt.
Damit dieser Meilenstein nicht ein Solitär in Gewerkschafts- und Friedensbewegung bleibe, hat sie nun zwölf überarbeitete Verschriftlichungen von Konferenzbeiträgen herausgegeben. Unter dem Titel „Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg. Zur Rolle der Gewerkschaften in der Friedensbewegung“ sind sie kürzlich beim Verlag „Westfälisches Dampfboot“ als Taschenbuch erschienen, gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS).
Deren Vorsitzender Heinz Bierbaum stellt im Vorwort die Beiträge und ihre mitunter prominenten AutorInnen vor, Ulrike Eiflers Einleitung ordnet die unterschiedlichen Ansätze politisch ein, von daher kann hier auf beides verzichtet werden.
Das gibt Raum, (ohne die anderen zurücksetzen zu wollen) auf den umfangreichsten Beitrag kurz einzugehen, der auch als ein Kernstück der Sammlung angesehen werden kann: Ingar Solty, Referent für Friedens- und Sicherheitsfragen am Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS, bietet die scharfe, ausführliche sowie pointierte Analyse der geopolitischen Lage, wie sie meines Erachtens für gewerkschaftliche Funktionäre bitter nötig ist. Die bisherigen Ansätze, den teils hausgemachten Krisen im Zuge der Pandemie-Maßnahmen und nun der explodierenden Aufrüstungs- und Kriegspolitik in gewerkschaftlichem Interesse entgegenzuwirken, müssen demnach scheitern, wenn sie sich oberflächlich auf Entlastung der damit verbundenen Teuerungen beschränken. Auf die Tatsache, dass wir nicht nur in einer der „einfachen“ konjunkturzyklischen Krisen des globalen Kapitalismus stecken, haben andere schon hingewiesen. Klaus Dörre erkennt z. B. eine ökologisch-ökonomische Zangenkrise. Auch der Begriff der „multiplen Krise“ ist in den letzten Jahren mehrfach gefallen. Ingar Solty definiert hier nun konkret differenzierend eine dauerhafte „Sechs-Dimensionen-Krise“ und setzt den Ukraine-Krieg in deren Kontext. Er weist schließlich darauf hin, dass ein Handeln gegen die Belastungen aus den aktuellen Kriegen und Krisen hier und jetzt beginnen muss: „Denn wenn es stimmt, dass sich die Verarmung breiter Bevölkerungsteile nicht abwenden lässt, solange sich die Gewerkschaften nur auf tarifpolitisches Kerngeschäft konzentrieren, dann muss die Beendigung des Ukrainekrieges (und jetzt kommt noch die Unterstützung des als völkermörderisch angeklagten Gaza-Krieges hinzu, R.F.), der ja die Haupttriebkraft der Inflation ist, auf die Tagesordnung der Gewerkschaften gesetzt werden.“ Die Antwort auf die Frage „Was tun?“ ist für ihn – und damit stellvertretend für die Intention von Konferenz und Textsammlung – klar: „Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, sozialistische und sozialdemokratische Parteien, klimapolitisch und umweltpolitisch orientierte Menschen, sie alle müssen diese Verbindungen herzustellen versuchen.“ Motivation und Mut dazu ließe sich aus den „tiefen Widersprüchen des globalen Kapitalismus in seiner Dauerkrise“ schöpfen, denn sie seien die „Triebfeder von Veränderung“. Aus ihnen ergäbe sich ein gesellschaftspolitischer Zusammenhang oder in den Worten Soltys eine „strukturelle Konvergenz von sozialer Frage, Friedensfrage und Klimafrage“. Sicher muss die Frage der aktuellen und strukturellen Rechtstendenzen hier auch eingeschlossen werden. Dass eine solche radikale Analyse nichts mit Entmutigung zu tun hat, belegt Solty am Schluss mit Bert Brechts Hinweis auf die Widersprüche, „die doch unsere Hoffnung sind“.
Ich möchte dieses Büchlein meinen Kolleginnen und Kollegen sowie allen friedenspolitisch Bewegten dringend ans Herz legen. Wenn die Beiträge noch durchgehend in einer weniger akademischen Sprache geschrieben wären, gelänge es wohl noch leichter, ihre auffordernden Inhalte zu einer materiellen Kraft, einem gesellschaftlichen Drehmoment werden zu lassen. Dazu braucht es aber ohnehin jenen berühmten Transmissionsriemen der aktivistisch Bewegten. Will meinen: lesen – durchdenken – übersetzen – organisieren!
PS – save-the-date: Friedenspolitische Gewerkschaftskonferenz,
14.06.2024 – 15.06.2024 – Gewerkschaftshaus Stuttgart, Willi-Bleicher-Str. 20, 70174 Stuttgart
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